Farbtonstücke

zum Klavierwerk des Komponisten Andreas Raseghi

CD-Booklet von Michael Iber, 1994


Farbtonstücke, Definition
        
       Aphoriste
       Verformung
       Aufladung eines Engels
       Besteigung der hallenden Öde
       Nächtlicher Altar
       Kinderstück
       Sprechende Hand
       3. Stück aus dem 1, Buch der Farbtontstücke
       Rapido assai
       Winter Blue

Akustische Phänomene
        
       Fälschung
       Imitation
       Phantomtöne
       Zeittöne

Conclusio


Die Farbtonstücke stellen einen oftmals logischen oder philosophischen Gedanken durch offenliegende musikalische Vorgänge und Strukturen dar. [...] Als bedeutendstes Charakteristikum eines Farbtonstücks könnte gelten, daß sich das Unverbindbare oder bisher nicht miteinander in Zusammenhang Gebrachte bunt nebeneinandergesetzt findet und ein Kontext geschaffen wird, der in Widersprüchen die Frage nach dem großen Zusammenhang aufwirft.

So beschreibt Andreas Raseghi eine Form, die im Laufe der Jahre zum Ausgangspunkt vieler seiner Stücke wurde. Sieben kurze, zwischen 1979 und 1984 komponierte Klavierstücke faßte Raseghi in dem Ersten Buch der Farbtonstücke zusammen, das einen in sich geschlossenen Zyklus bildet. Das Zweite Buch, 1987 begonnen, ist in seiner Form offener und zur Zeit noch nicht abgeschlossen. Die Stücke sind gegensätzlicher, allesamt länger als selbst das umfangreichste Stück des Ersten Buches und stehen nicht in direktem Bezug zueinander. Das Zweite Buch bildet das metaphysische Komplement des Ersten, das vorwiegend logisch-dialektische Gedanken darstellt.

György Kurtágs Konzeption seiner Játékok ("Spiele") ist der Idee der Farbtonstücke sehr verwandt:

Die Anregung zum Komponieren der "Spiele" hat wohl das selbstvergessen spielende Kind gegeben. Das Kind, dem das Instrument noch ein Spielzeug ist. Es macht allerlei Versuche mit ihm, streichelt es, greift es an. Es häuft scheinbar unzusammenhängende Klänge und wenn dies seinen musikalischen Instinkt zu erwecken vermochte, wird es nun bewußt versuchen, gewisse zufällig entstandene Harmonien zu suchen und zu wiederholen. [...] Spiel ist Spiel. Es verlangt viel Freiheit und Initiative vom Spieler. Das Geschriebene darf nicht ernstgenommen werden - das Geschriebene muß todernst genommen werden: was den musikalischen Vorgang, die Qualität der Tongebung und der Stille anbelangt.
[György Kurtág, Vorwort zu Játékok]

Aphoriste ist der "Prototyp" eines Farbtonstücks. Gegensatzpaare wie hoch/tief, kurz/lang, laut/leise, einzeln/zusammen, Bewegung/Stillstand und Dynamik/Nicht-Dynamik bestimmen den Verlauf des Stückes und definieren dabei Form an sich. Alles bezieht sich aufeinander und schafft dadurch ein übergeordnetes Ganzes, welches sich dann selbst ausblendet. Raseghi beschreibt diesen Vorgang:

Dieser Cluster dauert länger als all das, was sich vorher an Bewegung abgespielt hat. Das Stück hat zwei Hälften: Die eine ist die Präsenz von Musik und die andere stellt den Prozeß des Verschwindens dar.

Verformung, das vierte Stück des Ersten Buches deutet einige dieser Ereignisse um, ohne das formale Gerüst zu ändern. Ursprünglich beendete ein zuerst leise geschlossener, dann aber mit lautem Knall wieder geöffneter Tastendeckel das Stück. Im Laufe mehrerer Aufführungen zeigte sich aber, daß sich dadurch das Erinnerungsvermögen des Publikums selbst bei abendfüllenden Konzerten auf diesen Bruchteil einer Sekunde reduzierte. Daher ersetzt jetzt das perkussive Öffnen des rechten Pedals den "Tastendeckel". Im Gegensatz zu Aphoristeverklingt hier nicht ein Cluster, sondern ein durch einen Impuls entstandenes Geräusch verstummt abrupt.

Zwei Farbtonstücke, das 3. Stück(ohne Titel) aus dem Ersten Buch und Rapido assai aus dem Zweiten Buch,scheinen im Gegensatz zu den anderen Werken Raseghis mechanisch. Sie könnten von einer Maschine perfekt ausgeführt werden und erwarten einen Grad an Koordination von Fingern und Händen, der an der Grenze des Spielbaren liegt. Dennoch zieht Raseghi nicht Conlon Nancarrows Konsequenz, dem menschlichen Spieler zu entsagen, sondern fordert ganz im Gegenteil den Instrumentalisten heraus: Das Ziel ist Disziplin, eine fast an Dressur grenzende Körperbeherrschung. Im Versuch steckt das Meditative, Religiöse dieser Stücke, die einen "stehenden Klang" beschreiben. Hierzu eine kurze Erläuterung: Stillstand an sich kann es in wissenschaftlichem Sinne gar nicht geben, es sei denn, die Zeit selbst stünde. So kann also lediglich der Eindruck des Stehens erweckt werden. Innerhalb eines dynamischen Systems, wie zum Beispiel einem Atommodell, existieren Bewegung und Spannung. Nach außen wirkt das Modell aber unbeweglich. In Nr. 3und Rapido assai findet sich dieser Gedanke auf zwei Ebenen wieder: Der musikalischen, die einen Klang durch bewegte Töne stehen läßt, und der pianistischen, in der zwar die Finger Töne anschlagen, die horizontale Position der Hand aber fixiert bleibt.

Aufladung eines Engels ist, was die körperliche Herausforderung anbetrifft, verwandt mit den eben besprochenen Stücken. Repetierende Intervalle beschleunigen sich von Takt zu Takt schockartig, als "sprängen" sie von Mal zu Mal auf höhere Energieniveaus (vergleichbar Elektronen in Orbitalen), wobei sie sich zunehmend verdichten (von der Oktave zur großen Septim, kleinen Septim usw. bis zu einem Terzcluster). Eine dieser Geschwindigkeitsgruppen (große Sexte) enthält zudem - in sich dynamisch modulierte (d.h. crescendo/diminuendo, accelerando/ritardando) - Untergruppen, die sich zu chromatisch wandernden, überlagerten Akkorden und Clustern verdichten, wieder entflechten und den Auftritt des Engels andeuten. Nach fünfzig massiven Clusterrepetitionen am Ende des Stückes, also äußerster körperlicher Anstrengung, entschwebt aus dem offen Pedal der Engel. Der ganze "Zauber" dauert gerade einmal anderthalb Minuten und bildet eine Art dramatischen "Vorhang" zu der folgenden meditativen Besteigung der hallenden Öde. Der Begriff "Aufladung" ist in seiner Bedeutung ambivalent. Zum einen meint er einen elektro-statischen Prozeß, also die energetische Verdichtung, zum anderen schließt er das "Sich-Aufladen" mit ein, das (Er-) tragen der Bürde auf dem Weg zur Erkenntnis.

Ursprünglich zusammen mit Aufladung eines Engelsherausgegeben, öffnet sich dieBesteigung der hallenden Öde nach einer quasi-syllabischen Überschrift, der Musikalisierung des Titels im zweiten Takt durch ein klangliches Vakuum ("negatives Fingerpedal"):

abb1 

Besteigung der hallenden Öde beschreibt die Vielfalt und Vieldeutigkeit akustischer Ereignisse auf dem Klavier. Das Klavier wird zum Kosmos. Da mischen sich mikrotonale Oberton-Resonanzen mit ihren temperierten Nachbarn und bilden Schwebungen aus. Der Einschwingvorgang einer angeschlagenen Sekunde wird als Triller wahrgenommen und anschließend vom Pianisten imitiert:

 

Ein anderes Mal wird ein Resonanzphänomen sogar gefälscht:

 

Die gespielten Töne (d, e, fis) sind eine klang(farb)liche Annäherung, tatsächlich jedoch eine Fälschung des echten Resonanzflageoletts (h, e, g).

Der minimale Zeitabstand, der beim Anschlagen zweier fast gleichzeitig gedrückter Tasten entsteht, erzeugt einen tieferen, mitklingenden Ton, dessen Tonhöhe durch den Pianisten steuerbar ist. Raseghi nennt zwar seit langem dieses bekannte, aber noch nicht beschriebene Phänomen "Zeittöne". Auf dem Klavier wird durch das Öffnen des Pedals - und der damit verbundenen Anregbarkeit der Saiten - ein Doppelimpuls als Ton hörbar. Durch Positionieren der Finger läßt sich der Anschlagsabstand und dadurch auch der Zeitton in gewissem Umfang kontrollieren. Die Frequenz des Zeittons berechnet sich aus der Differenz der Anschlagszeitpunkte t1 und t2:

 

 

Einen Höhepunkt erreicht die Besteigung der hallenden Öde mit den sogenannten "Phantomtönen", die im Zeitalter der "Virtualität" zu einer höchst modernen Erscheinung werden. Die Töne eines Akkordes werden als Kombinationstöne übergeordneter, verborgener "Kerne", also "virtueller" Klänge betrachtet. Diese "Kerntöne" bezeichnet Raseghi als "Phantomtöne".

 

Der erste Klang (mit den Ordnungszahlen 1 und 11 ist das Ergebnis des zweiten 5 und 6 (mit den Kombinationstönen 6 - 5 = 1 und 6 + 5 = 11). Der Phantomklang klingt selbst mit den Kombinationstönen 10 und 12, also in der höheren Oktave seines Kernes mit. Bemerkenswert an Phantomtönen ist außerdem, daß sie die arithmetische Mitte der Addition/Subtraktion der Frequenzen sind:

 

Besteigung der hallenden Öde sensibilisiertdie Ohren. Sie verführt dazu, Klängen nachzugehen, nachzulauschen und reicht dadurch in eine Welt der Sinnlichkeit hinein, in der Zeit keine Rolle mehr spielt , in eine Welt des klingenden Raums.

Die Koordinaten der Galaxie NGC 6188 aus dem Sternbild Altarbilden die Grundlage des Nächtlichen Altars. Andreas Raseghi arrangierte die sich aus der Photographie ergebenden räumlichen Konstellationen zu einem zweidimensionalen (Tonhöhe - Zeit) Klavierstück (siehe Nachdruck der Photographie und Graphik). Die drei dominierenden Sonnen der Galaxie hat er dabei nicht mit einbezogen. Die Übertragung nicht-musikalischer Bilder und Systeme in Musik hat eine lange Geschichte, die bis zu den Bestrebungen der Antike zurückreicht, Weltharmonie, Mathematik und Musik miteinander zu verknüpfen. Zahlreiche Stücke dieses Jahrhunderts basieren auf Zahlentabellen. Nächtlicher Altar erreicht eine weitere Dimension, die Raseghi das "totale Klavier" nennt: Die Fülle des Weltraums wird in eine Fülle des Tonraums transkribiert. Alle Tasten sollen jederzeit spielbar und kontrollierbar sein. Diese Voraussetzung ist natürlich für einen Pianisten grifftechnisch nicht zu erfüllen und bedarf daher einer Art Anthropomorphisierung, einer Einrichtung des Stückes für menschliche (Be) Greifbarkeit.

Die Ähnlichkeit zwischen Kinderstück und Sprechender Hand soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um zwei sehr unterschiedliche Stücke handelt. Gemeinsam ist beiden Stücken das während ihres gesamten Verlaufs (klanglich an Zithermusik erinnernde) geöffnete Pedal, ihre modalen, harmonischen Ansätze und ihre Beschränkung auf eine Hand. Beide Stücke enthalten auch Figurationen, Läufe und Triller, die zuweilen an orientalische Musik erinnern. Das Kinderstückbeginnt als imaginärer Quartettsatz. Mit stetig schreitender Bewegung und mit einer naiven Entdeckungsfreude "stolpert" das Stück von einer Klangwelt in eine völlig andere, so daß sich verschiedene Episoden gegenüberstehen. Sprechende Hand ist abstrakter. Sie"beschreibt" eine Quinte. Der erste Teil des Stückes spielt sich weitestgehend in einem diatonischen Sieben-Ton-Raum ab, eine Umspielung der Quinte fis-cis. Nach einem den Verlauf zum Stehen bringenden Aufstieg in Terzen beginnt die Quinte zunehmend an Schärfe zu verlieren und zu "mutieren". Diese auf ihre ganz eigene Art "schöne" Musik, die zunächst scheinbar problemlos vor sich hin "melodiert", mag beim ersten Hören - gerade im Vergleich zu manchen anderen, die Konzentration des Hörers sehr fordernden Stücken, wie der Besteigung der hallenden Öde - irritieren. In der Verkettung von historischen und musikethnischen Elementen liegt die philosophische Tiefe dieser beiden Stücke verborgen.

In den letzten Jahren hat sich Andreas Raseghi immer mehr mit dem Jazz auseinandergesetzt und ungefähr dreißig Standardskomponiert. Sie sind in der im Jazz üblichen Weise abbreviert notiert. Winter blue, einen dieser Standardshat er als winterblue pianofür Klavier arrangiert. Ähnlich der bisher sowohl unveröffentlichten als auch unvollendeten Studie Dämmerung, die ebenfalls für das Zweite Buch der Farbtonstücke konzipiert ist, thematisiert auch winterblue piano die Auflösung des Beats. Alle Akkorde haben individuelle Dauern und sind aus den Konventionen fester Metren befreit. Insofern ist winterblue piano weniger Jazzarrangement als Klavierballade. Klang ist hier - anders als im Jazz - nicht harmoniebezogen, sondern eigenständig. So beschreibt etwa zu Beginn des Stückes die Reihung Ton (f), Terz (f-as), Akkord und diatonischer Cluster den Aufbau, die Architektur von Klang. Wie in allen anderen Farbtonstücken wird auch in winterblue piano ein Vorgang - in diesem Fall das Arrangieren - ästhetisiert.

Durch den Einzug des Computers in den Alltag entstand in den 80er Jahren eine Ästhetik der Digitalisierung und somit Strukturierung, die bestimmend für die meisten Bereiche menschlichen Seins wurde. Gleichzeitig entwickelte sich aber auch eine Neigung zur Verklärung. Man sucht Verbindendes, und vergißt dabei das Eigentliche - das Eigentliche verstanden als das, was die Dinge ausmacht, sie voneinander unterscheidet, das Nicht-Virtuelle. Diese Verklärung läßt sich aus einem Willen nach Komplexität heraus erklären, einem Verlangen, Dinge nachzubilden und dabei nur einen Teil ihrer Eigenschaften zu berücksichtigen. Geschichtlich resultiert sie aus der Suche nach einem in sich geschlossenen, stimmigen Weltbild, sei es ein religiöses, weltliches oder wissenschaftliches.

Es ist das Unbehagliche, das Zweifeln an Weltbildern, was den Blick auf das Wesen ermöglicht, was auch scheinbar Vertrautes immer wieder neu betrachten und hinterfragen läßt. Diese Wachheit - und die daraus sich ergebende Radikalität - verbindet Raseghi mit Luigi Nonos Ästhetik, einer Art wissenschaftliche Improvisation, die ein Impuls für Raseghis akustische Betrachtungen der mittleren 80er Jahre war. Beider Bestreben, die Dinge an sich zu belassen, sie aber trotzdem geistig zu durchdringen, führt in den Bereich des Mehrdeutigen, Metaphysischen.

Andreas Raseghi ist Komponist, zugleich aber auch Mathematiker, Informatiker, Akustiker, Philosoph und Sprachwissenschaftler ( des nahöstlichen Raumes, mit großem religionsgeschichtlichen Interesse ) sowie Ingenieur sensibler Meßgeräte. In meiner langjährigen pianistischen Arbeit mit ihm war ich oft überrascht von der Freiheit, die er "seinen" Interpreten gestattete, ja sogar abverlangte. Die Neugier darauf, wie ein anderer seine Musik versteht, das Notierte deutet, ist bezeichnend für die Lebendigkeit und Phantasie, die auch seinen Stücken innewohnt. Er erwartet Sorgfalt im Umgang mit dem Text und gleichzeitig geistige Freiheit. Nur so kann Musik eine Seele bekommen, bewegt sein.

Und wenn ihr nicht aufhören könnt zu denken,
so hört den Lärm der Gedanken
Motto des Ersten Buches der Farbtonstücke

Neben zahlreichen Gesprächen mit Andreas Raseghi fanden außer den bereits angeführten noch folgende Quellen Eingang in diesen Text: Programmheft eines Klavierabends in Neureut des Pianisten Christoph Grund aus dem Jahre 1990, Programmheft zu einem Portraitkonzert der Stuttgarter "Koordinaten" aus dem Jahre 1991 mit einem Interview von Rainer Riehn, bisher unveröffentlichte Aufsätze Andreas Raseghis zu Problemen und Phänomenen der Akustik, also auch den Zeit- und Kerntönen.

Berlin, den 01. Oktober 1994